Evelyn ist eine 95jährige Dame, die spitzzüngig und zurückgezogen in einer edlen Berliner Seniorenresidenz wohnt. Nur ihre Enkelin Hannah besucht sie jeden Dienstag pflichtschuldigst, mehr Familie gibt es nicht, da Evelyns Tochter (Hannahs Mutter) zehn Jahre zuvor einem Krebsleiden erlegen war. Oma und Enkelin haben ein nicht wirklich harmonisches Verhältnis zueinander, sie wissen fast nichts voneinander. Das liegt daran, dass Hannah sich nach dem Tod ihrer Mutter sehr in sich selbst zurückgezogen hat und dass Evelyn sowieso ein eher verschlossener Mensch ist.
Bei einem Besuch entdeckt Hannah in der Fernsehzeitung einen Brief von einer Anwaltskanzlei aus Israel. Als sie Evelyn danach fragt, gibt sie keine richtige Antwort und sagt ihrer Enkelin, sie könne mit dem Brief machen, was sie wolle, er interessiere sie nicht. Es stellt sich heraus, dass die Kanzlei in einem Fall von Rückerstattung von Beutekunst aus dem Dritten Reich auf Evelyn gestoßen ist. Sie sei die letzte lebende Angehörige des 1942 ermordeten Berliner Kunsthändlers Itzig Goldmann und die Kanzlei sei auf der Suche nach Kunstwerken, die ihm bei der Enteignung abgenommen wurden. Hannah ist verwirrt, denn den Namen Itzig Goldmann hat sie noch nie gehört, sie kann sich den Zusammenhang nicht erklären. Halbherzig beginnt sie, sich in ihre Familiengeschichte einzuarbeiten. Hierbei sucht sie die Hilfe ihres unnahbaren Geliebten und Doktorvaters Andreas, der sie jedoch mit Jörg abspeist, der sie als Rechercheur unterstützen soll, und der sie mit seinem penetranten Interesse für alles, was die NS-Zeit und vor allem die jüdische Geschichte betrifft, fürchterlich nervt. Hannah weiß noch nicht, dass das auch Teil der Geschichte ihrer Familie ist. Nach einiger Zeit stellt sich heraus, dass sich die Suche eigentlich nur noch auf ein einziges Bild aus dem Goldmann-Besitz beschränken kann, da alle anderen nicht klar zugeordnet werden können. Es geht um ein Bild von Vermeer, dessen Titel unbekannt ist, das aber folgendes Motiv zeigt: Junge Frau, am Fenster stehen, Abendlicht, blaues Kleid…
1922 fängt die zweite Erzählebene an, die uns diese Familiengeschichte erzählt. Hannahs Urgroßmutter Senta ist mit ihrem Verlobten, dem Luftwaffenheld Ulrich, verlobt und schwanger. Das Kind, Evelyn, ist ein Unfall, Ulrich jedoch ein Ehrenmann, der sie heiraten wird. Es stellt sich im Laufe der Ehe heraus, dass Senta nicht glücklich ist, sie kann mit dem Kind nichts anfangen, der Haushalt geht ihr nicht von der Hand, sie fühlt sich minderwertig. Die Ehe scheitert und ihre Tochter Evelyn bleibt bei der Schwester ihres Mannes, Trude, die sich sehr aufopferungsvoll um ihre Nichte kümmert und mit ihr nach Güstrow aufs Land zieht. Ulrich kommt kurz darauf bei einem Autounfall ums Leben. Nun gibt es nur noch Trude und Evelyn – und irgendwo in Berlin auch Senta. Sie findet im Lauf der folgenden Jahre ihr Glück als recht erfolgreiche Mitarbeiterin einer Zeitung, wo sie auch Julius Goldmann kennen und lieben lernt. Die beiden sind sehr glücklich miteinander und irgendwann sucht Senta auch wieder den Kontakt zu ihrer Tochter Evelyn, was sich als sehr schwierig darstellt, da sie sich noch immer nicht richtig als Mutter fühlt. Die Jahre gehen ins Land und die Situation in Deutschland wird für die Goldmanns kompliziert und gefährlich, während Trude als Ortsgruppenleiterin in Güstrow zum ersten Mal eine respektierte Person ist und immer mehr im nationalsozialistischen Gedankensumpf versinkt.
Wieder eine Familiengeschichte, die die Zeit des Nationalsozialismus aufnimmt! Aber diese hier ist etwas anders. Sie schildert die weit zurückliegenden Ereignisse sehr anschaulich und mitreißend, mit einprägsamen Personen, die in einer furchtbaren Zeit um ihre Unversehrtheit oder sogar ihr Leben kämpfen müssen. Die Erzählebene mit Hannah als Hauptfigur ist jedoch trotz aller Dramatik „leichter“, teilweise sogar richtig schnodderig geschrieben, so wie eben eine junge Frau im heutigen Berlin ihr Leben lebt und zu sich selber finden muss. Die Sprünge zwischen den beiden Zeitebenen machen den Roman spannend, man wird sofort eingesogen in beide Geschichten. Alena Schröder liefert mit ihrem Debüt sehr gute, anrührende und spannende Unterhaltung zum Beispiel für Leserinnen von Dörte Hansen oder Carmen Korn.